Die Puppe - ein wahres Weihnachtsmärchen

Die Puppe - ein wahres Weihnachtsmärchen
Eines Morgens saß sie einfach da, mitten im Schaufenster des kleinen Spielwarenladens an der Ecke.
Auf dem Weg zur Schule kam ich jeden Morgen daran vorbei und blieb auf dem Heimweg längere Zeit vor dem Fenster stehen, um die Herrlichkeiten zu bewundern. Spielzeug war für mich als Neunjährige so etwas wie ein Lebenselixier, Spielzeug und Bücher. Aber damals, 1951, gab es von allem ganz wenig. So drückte ich mir die Nase platt vor diesem Schaufenster und träumte, ich wäre eine Prinzessin und könne davon soviel haben, wie ich nur wollte.
Nun saß sie da, die kleine Babypuppe mit krummen Ärmchen und Beinchen. Sie trug einen rosa Strampelanzug, ein weißes Jäckchen und ein weißes Mützchen. Eine solche Puppe hatte ich noch nie gesehen. Sie hatte noch eine Besonderheit: sie hatte braune! Augen, so wie ich. Die Puppen, die man bis dahin kannte, hatten blaue Augen. Diese Puppe ergriff mich total. Ich liebte sie, als sei sie ein Kind von mir. Von nun an ging ich schon fünf Minuten früher zur Schule, um sie sehnsüchtig anzuschauen. Mit der Zeit hatte ich auch einen Namen gefunden: Irene! Ja Irene ist schön. Zuhause hatte ich davon nichts erzählt, hoffte aber insgeheim, dass Mutter sie auch sehen würde und sie als Weihnachtsüberraschung kaufen könnte. Aber das war nur ein Traum.
Eines Tages fasste ich meinen ganzen Mut zusammen, drückte auf die Klinke und trat vorsichtig in den Laden ein. Eine Glocke läutete beim Öffnen der Tür. Ein mittelgroßer Mann mit grauen Haaren kam aus dem Nebenraum, beugte sich zu mir herunter und fragte: „Na, mein kleines Fräulein, was wünschst Du denn?“ „Ach, ich“ stotterte ich, „die Puppe da, das Baby, wie viel kostet es?“ Der Mann holte aus dem Regal eine Mappe, schaute hinein und dann wieder auf mich und sagte freundlich: „Warte, sie kostet, na, ach hier hab ich’s, ..es ist eine Schildkröt-Puppe, ganz neue Kreation -21 Mark.“ Mir wurde ganz schwindlig.
21 Mark! Ein so hoher Preis! Der Mann sah mein enttäuschtes Gesicht und meinte tröstend: „Vielleicht bekommst Du sie ja vom Christkind. Christkind? Das gibt’s doch gar nicht.
Ich bedankte mich artig, knickste und ging eilends hinaus. 21 Mark!. So ein teures Geschenk konnten sich meine Eltern gar nicht leisten. Dazu fehlte das Geld und schließlich waren da auch noch meine beiden jüngeren Geschwister, mein Bruder von 5 Jahren und meine kleine Schwester ein Säugling von 8 Monaten.
Vater war Schneider. Er arbeitete viel, die Nähmaschine ratterte unaufhörlich, manchmal bis spät in die Nacht. Aber es reichte hinten und vorne nicht, um die 5-köpfige Familie über die Runden zu bringen.
Das wenige Geld musste für Essen und notwendige andere Sachen reichen.
Um ein besseres Einkommen zu haben, hatte Vater sich auf eine vermeintlich sichere Sache eingelassen. Ein dick beleibter Herr mit Homburger Hut und Zigarre (er sah damit sehr reich aus) besuchte und und bot ihm an, seine Anzüge und Kostüme zu vertreiben. „Maßkonfektion“ war das Zauberwort. Vater nähte sich die Finger blutig und Mutter brachte mit dem Fahrrad die fertige Ware zu der „Firma“. Mal bekam sie dafür Geld, mal nicht, angeblich, weil die Ware nicht verkäuflich war. Wirtschaftlich war es ziemlich schwer bei uns daheim. Wie konnte ich denn dann eine Puppe für 21 Mark erwarten? Ach, weiter träumen.


Eines Morgens – es war so um den 1. Advent herum – war die Puppe aus dem Schaufenster verschwunden! Der Schreck und meine Trauer waren

groß. In der Schule war ich nicht konzentriert. Auf dem Heimweg ging ich schnurstracks in den Laden und fragte nach ihrem Verbleib. „Das Baby ist leider seit gestern verkauft, tut mir sehr leid für dich. Mein Traum war ausgeträumt. Große Enttäuschung und Trauer ergriffen mich. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Täglich ging ich noch an diesem Geschäft vorbei, um zu sehen, ob sie doch noch dort saß. Nein, vergebens. Sie war einfach weg.

Weihnachten rückte näher. Mutter stöhnte, dass wieder kein Geld da sei.
An Heiligabend packte sie die letzte Ware für dieses Jahr auf ihr Fahrrad und fuhr damit zu dieser „Firma“.
Ohne Geld, nur mit einem Verrechnungsscheck, der möglicherweise gar nicht gedeckt war, kam sie nach Hause. Kein Geld, auch kein Weihnachtsbaum, kein Festtagsbraten., keine Geschenke. Vater sagte nur „Oh du fröhliche"...
Doch dann geschah ein Wunder: Der Metzger, der unten im Haus eine kleine Fleischerei betrieb, tauschte diesen Scheck gegen Bares ein und schenkte darüber hinaus noch einen großen Schweinebraten.
Vater hatte doch noch einen Weihnachtsbaum erstanden, einen Restposten, der erstmal durch Anbohren und Einsetzen von Zweigen „ geschönt“ werden musste. Doch als er geschmückt war, war er wunderschön, duftete nach Tanne und sah ganz festlich aus.
Der Schweinebraten brutzelte auf dem Herd und verbreitete ein köstliches Aroma. Tannenduft und Schweinebraten! Ach, es war herrlich. Auch die Freude, zur Christmette zu gehen, war groß. Nun hatten wir doch Weihnachten!
Nach dem Essen sagte Mutter ganz feierlich: „so, jetzt geht alle mal zu Herrn Köller, vielleicht kommt doch zu uns das Christkind“. Herr Köller war Student und bewohnte ein kleines Zimmer auf der Etage. Insgeheim dachte ich, ich würde vielleicht ein kleines quiekendes Gummischwein bekommen – oder vielleicht doch ein Buch? Herrn Köller erzählte ich, ich bekäme ein Lexikon. Schließlich war er doch studiert. Da wollte ich nicht nachstehen. Aber auch das war im Haushaltsbudget nicht vorgesehen.
Kling Glöckchen – klingeling. Es ertönte über dem Flur, die Tür zu unserer Küche stand offen, ganz vorsichtig schlichen mein Bruder und ich mit dem Säugling auf dem Arm zur offenen Tür, lugten hinein und wurden total ergriffen. Die Eltern standen vor dem Weihnachtsbaum und sangen „Stille Nacht… Die Kerzen verbreiteten ein warmes Licht und es war eine so feierliche Atmosphäre, wie ich sie nie wieder erlebt habe.
Und dann sah ich sie im warmen Kerzenschimmer: – meine Irene mit braunen Augen, rosa Strampelanzug und weißem Mützchen. Ich dachte, ich träume. War zu uns doch das Christkind gekommen? Der Zweifel an der Existenz eines solchen Wesens war wie weggefegt. So eine Freude!
Mein Bruder bekam ein Xylophon, auf dem er sofort mächtig drauflos haute und meine kleine Schwester das quiekende Gummischwein. Und ich die Babypuppe mit krummen Ärmchen und Beinchen mit braunen Augen, rosa Strampelanzug und weißem Mützchen, das teure Geschenk. Die größte Freude aber hatte Mutter; hatte sie doch meinen geheimsten Wunsch erfüllen können.
Später erfuhr ich, dass sie zufällig gesehen hatte, dass ich mir die Nase vor dem Schaufenster platt drückte. Heimlich hatte Sie die Babypuppe reservieren lassen und mit kleinen Beträgen abbezahlt, die letzte „Rate“ an Heiligabend, die durch die Großzügigkeit des Metzgers aus unserem Haus noch möglich geworden war.
Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder so ein schönes Weihnachtsfest erlebt und ein so kostbares Geschenk bekommen, es war die größte Freude und der größte Luxus meines Lebens.
Ich habe sie immer noch – leicht lädiert – aber sie ist nunmal -meine Irene.

Autor: Ingrid Heyder

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