Kätchens Weihnachtstraum

Kätchens Weihnachtstraum
Das vierjährige Kätchen hatte zu Weihnachten eine Küche bekommen und ein Schäfchen, das "mäh" schreien konnte. Das allerschönste aber war Rosa, eine Puppe in rosenfarbendem Faltenkleide aus Tüll. Dazu passte der feine Kopf mit seinen schwarzen Locken, den hübschen roten Backen und großen blauen Augen ganz allerliebst. Letztere fielen, wenn man die Puppe hintenüberlegte, ganz von selbst zu. Kätchen hatte auch Geschwister. Da war Gerhard, der hatte natürlich Soldaten, Pferde und Kanonen bekommen und auch einen Nussknacker. Dann Liesel, die auch eine Puppe als Geschenk erhalten hatte.

Diese musste mindestens eine Gräfin sein, so herrlich prangte sie in schwarzem Samt mit silbernen Knöpfen. Sie war gleich Paula getauft worden, "denn so heißen die Gräfinnen ja gewöhnlich", meinte Liesel.
Trudchen, das kleinste Schwesterchen, hatte die größte Puppe geschenkt bekommen, ein Bauernmädel, wohl einen Kopf größer als Gräfin Paula, und ebenso stark wie der Nussknacker. Ihren endgültigen Namen hatte sie noch nicht gefunden. Vorläufig nannte man sie einfach Rosine, weil sie mit einer Rosine an der Nase das Licht des Christbaumes erblickt hatte, denn als bei der Bescherung die Kinder an ihre Plätze geeilt waren, hatte Klein-Trudchen zuerst an ihrem Kuchen geknabbert, und dabei war eine Rosine herabgeglitten und der Puppe an der nase hängengeblieben. Zwar wanderte sie von dort alsbald in Trudchens Mund, aber den Namen hatte die Puppe doch davon weg. Neben Rosine stand noch ein Schornsteinfeger, der war ganz schwarz bis auf seine Leiter, denn die war noch neu und weiß.
Gerhards Soldaten zu beschreiben ist rein unmöglich, denn es waren wenigstens hundert Gemeine und außerdem ein Oberst und ein General mit vielen prächtigen Orden. der Trompeter aber mit seiner zierlichen blanken Trompete war fast noch schöner als diese beiden und sah mit seinem kecken braunen Schnurrbart unternehmungslustig aus.
Kätchen hatte lange gespielt und war dabei müde geworden, wollte sich aber von seiner wunderschönen Puppe nicht trennen. "Weißt du was", sagte die Mama, die immer guten Rat wusste, "nimm deine Rosa mit ins Bett, sonst läuft sie am Ende fort und geht mit dem Nussknacker auf den Ball."
Kätchen blickte betroffen zu dem Nussknacker hinüber, und richtig, dieser schaute der schönen Rosa so frech ins Gesicht, als wollte er sagen: "Wart` nur bis gleich!" Da nahm das Mädchen kurz besonnen die Puppe unter den Arm und ging zu Bett.
Nun ist es allbekannt, dass die Nacht nach der Bescherung die Spielsachen, soweit sie noch nicht entzwei sind, lebendig werden, und da geht’s dann allemal lustig zu. So gewahrte auch Kätchen, als es sich, schon im tiefsten Schlafe, nach der offenstehenden Tür der Weihnachtsstube umdrehte, dass Gertruds Schornsteinfeger seine Leiter an den Christbaum angelehnt hatte und hinaufstieg, um mit einem Wachsstock die Lichter wieder anzuzünden. der Nussknacker und der

Trompeter hielten dabei die Leiter, und die beiden Offiziere plauderten mit Gräfin Paula, indes die Köchin Rosine mit einem dicken, an den Enden ausgefransten Knallbonbon den Tisch reinfegte. Als alle Lichtchen brannten und der Schornsteinfeger wieder vom Baume herabsteigen wollte, winkte der General den Trompeter heran und flüsterte ihm leise ins Ohr: "Zieh` die Leiter weg, damit der rußige Kerl nicht herunterklettern kann, den können wir nicht auf unsrem Ball brauchen."
So geschah es, und der arme Schornsteinfeger saß auf dem Weihnachtsbaum und musste zusehen und -hören, wie der Trompeter zum Tanz aufspielte und der General die Gräfin Paula zum Walzer aufforderte. Rosine aber lehnte ein entsprechendes Angebot des Oberst ab und tanzte lieber mit dem Nussknacker, weil der vom gleichen Stande war wie sie selbst.
Wie gern hätte die schöne Rosa nun mit dem Oberst getanzt, der so verlassen dastand und an seinem Schnurrbart zupfte, aber Kätchen hielt sie ganz fest und sagte: "Du bleibst hier, Rosa, du gehst mir nicht auf den Ball."
Unterdessen war im Weihnachtszimmer ein wildes Tanzvergnügen im Gange, während der arme Schornsteinfeger auf dem Christbaum immer ärgerlicher wurde. Plötzlich entdeckte er gerade unter sich das dicke Knallbonbon, das Rosine vorhin als Besen benutzt hatte. Da drehte er aus einem der Baumwollfäden, die zum Schmuck in den Zweigen hingen, eine Lunte, zündete sie an einem Lichtchen an und - steckte das Knallbonbon in Brand.
Der schmucke Oberst saß gerade mit Gräfin Paula auf einer Schachtel voll Knallerbsen und plauderte nach Herzenslust, da platzte das Knallbonbon und schleuderte seine Zuckererbsen mit furchtbarer Gewalt nach allen Seiten umher. Die Lichter erloschen, der Schornsteinfeger stürzte vom Baum herab und brach sich ein Bein, dem Trompeter wurde sein Instrument aus der Hand gerissen, und der Nussknacker stand vor Schreck mit weit aufgesperrten Munde da. Am schlimmsten aber hatte es den schmucken Oberst getroffen, denn die ganze Schachtel Knallerbsen war mit ihm in die Luft geflogen und hatte ihn in tausend Stücke zerrissen. Gräfin Paula hatte Glück, nur ein Uniformknopf des Oberst war ihr an die Wange geflogen, und so lange sie lebte, sah man noch die Spur davon.
Von dem Knall waren auch Kätchen und ihre Eltern aufgewacht, und die Kleine rief ganz erschrocken:
"Papa, bitte, geh doch snell in den Saal, der Sornsteinfeger hat den armen Oberst in die Luft gesprengt." Papa nahm ein Licht und betrachtete das Durcheinander. "Es ist doch zu dumm", sagte er, wenn die Knallerbsen knallen sollen, dann tun sie’s nicht, möchte man aber ruhig schlafen, gehen sie ganz von selbst los."
"Hauptsache, meine Rosa ist nicht kank geworden", sagte Kätchen.
"Krank heißt es", verbesserte der Papa. "Ich hab ja auch kank gesagt", verteidigte sich die Kleine, und dann schliefen alle, jetzt ohne Störung, weiter.

Autor: Albert Ferdinand Timäus

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