Gloria

Gloria
"Gloria! Gloria!", rief Balthasar, der kleine Engel, aus vollem Halse, denn er war so stolz, in diesem Jahr das erste Mal beim Christfest im Chor der Engel mitsingen zu dürfen. Immerhin sollte man den Gesang der himmlischen Heerscharen ja bis auf die Erde hören. "Warum brüllst du denn so?", erkundigte sich ein kleiner Engel, der neben ihm seinen Platz im Chor hatte. "Ich denke wir sollen so singen, daß die Menschen es als ein Jubeln empfinden. Du aber brüllst, daß mir die Ohren schmerzen!" Verlegen schaute Balthasar auf seine Wolke hinunter, auf der er stand. "Ich wollte doch nur, daß man uns auf der Erde wahrnimmt", erklärte er seinem Nachbarn. "So wie du dich aufführst, denken die Menschen es gibt ein Wintergewitter", meinte sein Nachbar jetzt belustigt. "Ich denke, wir beide werden noch ein wenig üben müssen bis zum Fest, damit deine Stimme dann auch wie die eines Engels klingt." Bereitwillig stimmte Balthasar zu.
In den nächsten zwei Tagen übten beide Engel nun in jeder freien Minute. Als sich der himmlische Chor bei einbrechender Dunkelheit, am Heiligabend, auf der großen Wolke traf, klang Balthasars Stimme glockenklar und hell, so daß es eine Freude war ihm zuzuhören. Nach dem Konzert des Engelchores hatte Petrus zur himmlischen Bescherung eingeladen. In diesem Jahr würde er seine Engelschar erfreuen, indem er jedem ein wenig Goldstaub auf seine Flügel streuen würde, damit sie bei Nacht noch strahlender leuchten könnten. Alle Engel hatten ihren Platz eingenommen, als Petrus begann die Weihnachtsgeschichte zu erzählen, die alle Engel in jedem Jahr immer wieder gerne hörten. Sie waren sehr stolz darauf, daß einer aus ihren Reihen einst den Hirten auf dem Feld die Botschaft gebracht hatten, daß Gottes Sohn geboren sei. So saßen alle Engel im Festgewand und lauschten der Weihnachtsgeschichte, bis auf einen.
Natürlich, dieser eine, das war Balthasar. Als er gespürt hatte, wie sich so manch ein Engel am Abend beim Konzert zu ihm umdrehte, um ihm einen wohlwollenden Blick zuzuwerfen, wegen seiner herausragenden Stimme, hatte er sich fest vorgenommen, diese Stimme dürfte nicht nur im Himmel erklingen, nein er wollte und mußte auf die Erde. So hatte er sich heimlich davongeschlichen, als sich alle anderen Engel zum Festsaal begaben. Als keiner seiner Mitstreiter mehr zu sehen war, breitete er seine Flügel aus, stieß sich von der Wolke ab, um zur Erde zu schweben. Ganz so weit, hatte er sich den Flug nicht vorgestellt, schon bald wurden ihm die Flügel lahm. Bisher war er nur mal so von Wolke zu Wolke geflogen, aber niemals so weite Strecken wie heute. Als seine Kraft schon erheblich am Schwinden war, sah er in der Ferne ein Haus mit hohem Turm. Zuerst landete er auf dem Dachfirst. Hier ruhte er sich

etwas aus. Als er sich langsam erholt hatte, hörte er aus dem Inneren des Hauses leise Töne. Jetzt wollte er es genauer wissen und schwebte vom Dachfirst auf die Erde hinab. Die Tür des Gebäudes stand offen. Schon beim Betreten sah er eine hell erleuchtete Tanne und davor eine Krippe aufgebaut. Er mußte an die Worte von Petrus denken und meinte, daß könne nur eine Kirche sein. Leise trat er näher und wieder vernahm er das Singen vieler Stimmen. "Das ist fast wie bei uns, nur daß hier weniger Stimmen vereint sind", dachte Balthasar bei sich. Da Engel bekanntlich unsichtbar sind für das menschliche Auge, mischte sich Balthasar still unter die anderen Sänger, um dort mit in den Lobgesang zur Ehre Gottes einzustimmen. ‚Was war das?‘ Die Menschen schauten sich um. Diese Stimme hatten sie in ihrem Chor noch nie vernommen. ‚Wer konnte so glockenrein singen?‘ Andächtig lauschten alle diesem Klang. Auch der Chorleiter konnte sich nicht erklären, wieso sein Chor heute anders klang als bei den Proben. War es die festliche, weihnachtliche Stimmung? Anders konnte er sich das nicht erklären. Auch das Gespräch im Anschluß mit allen Beteiligten brachten nichts. Balthasar freute sich, denn er hatte wohl mitbekommen, wie andächtig alle Zuhörer seiner Stimme gelauscht hatten. So leise, wie er gekommen war, schlich er sich wieder aus der Kirche. Es wurde Zeit den Rückflug anzutreten.
Nun ging sein Blick zum Himmel empor. "Oh, wie hell und klar ist doch diese Nacht!", freute sich Balthasar, für den es längst Zeit wurde, auf seine Wolke zurückzukehren. Er holte tief Luft, spannte seine Flügel und startete zum Rückflug. Erstaunlicherweise gelang ihm dieser jetzt viel leichter, als der Hinflug zur Erde. Als er die große Wolke erreichte, war Petrus gerade dabei alle himmlischen Gäste zu verabschieden und ihnen einen besinnlichen Heiligabend zu wünschen. Stolz trugen sie ihre goldbestäubten Flügel und waren bemüht an keiner Wolke anzuecken.
Ein wenig traurig schaute Balthasar jetzt auf die glänzenden Flügel der anderen. In dem Moment hatte Petrus ihn aber auch schon entdeckt. "Wo warst du denn, mein Kleiner?", wollte er jetzt wissen. Nun konnte Balthasar nicht anders und berichtete von seinem Erdenerlebnis. "Du weißt, daß du keine Flugerlaubnis hattest", sagte Petrus etwas bedenklich. "Aber, weil heute Weihnachten ist und du Weihnachtsfreude auf die Erde gebracht hast, komm her! In meinem Beutel habe ich noch ein klein wenig Goldstaub, den sollst du jetzt haben." Balthasar konnte sein Glück gar nicht fassen. Auch seine Flügel würden künftig noch strahlender leuchten. Wie schön! Müde und voller Träume ging er zu seiner Wolke und machte es sich darauf bequem. Seine Gedanken schweiften noch einmal über die Erde und zu den Menschen, die er heute besucht hatte, dann schlief er selig ein.

Autor: Christina Telker

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